Als die kleine Maja am anderen Morgen im Kelch einer blauen Glockenblume erwachte, hörte sie, daß die Luft von einem feinen leisen Rauschen erfüllt war, und sie spürte, daß die Blume sich bewegte, als bekäme sie heimlich kleine Stöße. Durch ihren geöffneten Kelch zog ein feuchter Geruch von Gras und Erde, und es war sehr kühl.
Maja nahm ängstlich ein wenig Blütenstaub von den gelben Staubgefäßen der Blume, machte dann sorgfältig Morgentoilette und wagte sich vorsichtig Schritt für Schritt bis an den äußersten Rand des hängenden Kelches. Da sah sie, daß es regnete. Ein feiner kühler Regen ging mit leisem Rauschen nieder und bedeckte alles umher mit Millionen heller Silberperlen. Sie lagen auf den Blättern und Blumen, rollten im Gras die schmalen grünen Wege der Halme nieder und erfrischten den braunen Erdboden.
Maja sah mit großem Erstaunen und voll tiefer Verwunderung diese Veränderung der Welt, es war der erste Regen, den sie in ihrem jungen Dasein erlebte. Aber obgleich es ihr wohl gefiel und sie beglückte, stellte sich doch eine leichte Besorgnis bei ihr ein, denn sie erinnerte sich der Warnung Kassandras, niemals im Regen auszufliegen. Sie begriff, daß es schwer sein mußte, die Flügel im Tropfenfall zu bewegen, auch tat ihr die Kälte weh, und sie vermißte den ruhigen goldenen Sonnenschein, der die ganze Erde heiter und sorglos stimmte.
Es mußte noch sehr früh sein, denn das Leben im Gras unter ihr nahm erst seinen Anfang. Unter ihrer blauen Glocke war sie wohlgeborgen und konnte den erwachenden Verkehr unter sich prächtig beobachten. Darüber vergaß sie für eine Weile ihren Kummer und das Heimweh, das sich in ihrem Herzen einstellte. Es war gar zu unterhaltend, so von einem sicheren Versteck aus, von oben her, auf das Leben und Treiben der Grasbewohner herabzuschaun. Aber allmählich zog es ihre Gedanken doch nach ihrer verlassenen Heimat, nach dem Schutz und der starken Gemeinschaft des Bienenstocks. Dort saßen sie nun beieinander, des Ruhetags froh, bauten vielleicht hier und da ein wenig an den Zellen, oder fütterten die kleinen Maden. Aber im allgemeinen war es recht ruhig und beschaulich im Stock an Regentagen. Nur zuweilen flogen Kundschafter aus, sahen nach dem Stand des Wetters und erforschten, von welcher Seite der Wind kam. Die Königin ging im Reiche umher, von Etage zu Etage, prüfte alles, lobte oder tadelte, legte wohl hin und wieder ein Ei und beglückte alle durch ihre königliche Gegenwart. Wie froh machte es, einen Blick von ihr aufzufangen oder ein huldvolles Wort. Es kam vor, daß sie den jüngeren Bienen, die ihre ersten Leistungen hinter sich hatten, freundlich über die Köpfchen strich oder sich nach ihren Erlebnissen erkundigte.
Ach, wie glücklich machte es, sich dazu rechnen zu dürfen, sich von allen geachtet zu wissen und den starken Schutz der Gemeinschaft genießen zu können. Hier an ihrem einsamen und ausgesetzten Platz war sie gefährdet und fror. Und wenn der Regen anhielt, was sollte sie dann beginnen und wodurch sollte sie sich ernähren? Honigsaft war kaum in der Glockenblume zu finden, und der Blütenstaub würde auch nicht allzulange vorhalten. Sie empfand zum ersten Male, wie notwendig zu allem Wanderleben und zum Vagabundentum der Sonnenschein war. Ohne den Sonnenschein wäre wohl niemand leichtsinnig, dachte sie.
Aber, wenn sie sich nur des Sonnenscheins erinnerte, erfüllte es sie schon wieder mit Freude und heimlichem Stolz, daß sie so mutig gewesen war, ihr Leben auf eigene Faust zu beginnen. Was hatte sie in der kurzen Zeit ihres Wanderns nicht schon alles gesehn und erfahren! Davon wußten die andern wohl ihr Leben lang nur wenig. Erfahrung ist doch das höchste Lebensgut und ihrer Opfer wert, dachte sie.
Unten zog ein Trupp Wanderameisen im Gras vorüber. Sie schritten singend durch den kühlen Graswald und schienen Eile zu haben. Ihr frisches Morgenlied erklang im Marschtakt und stimmte das Herz der kleinen Maja wehmütig und nachdenklich.
Bald ist unsre kurze Frist
auf der Erde aus.
Was ein rechter Räuber ist,
macht sich nichts daraus.
Sie waren außerordentlich gut bewaffnet und sahen keck und gefährlich aus. Ihr Lied verklang unter den Huflattichblättern. Aber dort schienen sie mit ihrem Gesang etwas Rechtes angerichtet zu haben, denn es erklang nun eine rauhe heisere Stimme, und die kleinen Blättchen eines jungen Löwenzahns wurden energisch auseinandergedrängt. Maja sah einen großen blauen Käfer hervordringen, der wie eine Halbkugel aus glänzendem, dunklem Metall aussah und bald bläulich, bald grünlich, zuweilen auch ganz schwarz schimmerte. Er war wohl zwei- oder dreimal so groß wie sie. Sein harter Panzer schien ihr von unzerstörbarer Festigkeit, und seine tiefe Stimme hatte etwas gradezu Einschüchterndes. Er schien durch den Gesang der Soldaten erwacht und bei sehr schlechter Laune zu sein. Sein Haar war noch nicht geordnet, und er rieb sich den Schlaf aus den blauen listigen Äuglein.